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Die Irrtümer des Schlusssteinkonzepts auf Grundlage von Form- und Kraftverschluss

Datum:
Dezember 22, 2021
Autor:
Dr. Serola

In den letzten 30 Jahren habe ich die Literatur über das Iliosakralgelenk (ISG) studiert und mit den Befunden bei meinen Patienten abgeglichen. In den frühen 1990ern wurde das Schlusssteinkonzept auf Grundlage von Form- und Kraftverschluss von einer Gruppe von Physiotherapeuten in Europa eingeführt [1]. Sie kamen auf eine Idee, nachdem sie festgestellt hatten, dass „ein handelsübliches Gerät, das zum Streichen von Decken verwendet wird, uns zu der Vorstellung verhalf, dass das ISG als Reibungsgelenk dient. Dies war natürlich wissenschaftliche Ketzerei, denn die Haupteigenschaft eines Gelenks ist seine Fähigkeit, reibungslos zu funktionieren.“ Weiter heißt es: „Zwölf Jahre später gibt es genügend Beweise für die Ansicht, dass Iliosakralgelenke als Reibungsgelenk funktionieren.“ In den drei weiteren Jahrzehnte, die seitdem vergangen sind, hat sich dieses Konzept des ISG als Schlussstein noch stärker in unser falsches Verständnis der ISG-Mechanik verfestigt. Sie hatten recht: Es war und ist wissenschaftliche Ketzerei.

Das Konzept

Es wird angenommen, dass ein Schlussstein durch Form- und Kraftverschluss selbstsichernd wirkt [2]. Der Formverschluss ist definiert als die Stabilisation des Gelenks über die Anordnung des keilförmigen Kreuzbeins zwischen den Darmbeinen. Der Kraftverschluss ist definiert als die Stabilisation des Gelenks über die Muskeln und Bänder auf den ISG-Bereich zwischen Kreuzbein und Darmbein. Das Konzept basiert auf der Vorstellung, dass sich das Kreuzbein bei Gewichtsbelastung tief in das Darmbein vordringt und die Kreuzbein- und Darmbeingelenke im Gelenkbereich zusammengedrückt werden, um eine stabile Verbindung zu bilden, bei der die Kraft direkt von „Knochen zu Knochen“ übertragen wird.

Biomechanisch gesehen verschiebt sich bei der normalen reziproken Bewegung ein Darmbein nach medial, das andere nach lateral. Bei der seltenen bilateralen Nutation, bei der sich beide Darmbeine nach medial verschieben, bewegt sich das Kreuzbein nach anterior und inferior, weg von den Darmbeinen. Mit anderen Worten: Die Annäherung der Darmbeine geht nicht einher mit der Annäherung von Kreuzbein und Darmbeinen. Die Darmbeine können sich zwar annähern, aber nicht komprimiert werden, da das Kreuzbein dazwischen Platz braucht. Das Becken funktioniert demnach eindeutig wie eine Hängematte, nicht wie ein Schlussstein.

Die Wissenschaft

In der einzigen wissenschaftlichen Studie, die sich mit der Annäherung der ISG-Flächen befasste, stellte Vukicevic [4] fest, dass bei der Betrachtung des Kreuzbeins und des Darmbeins „ein enger Kontakt zwischen den Gelenkflächen nie in einem weiten Bereich der einwirkenden Belastungen erreicht wird, der durch starke interossäre Iliosakralbänder gesichert wird.“ Aber: „Die Entfernung der interossären Bänder führte dazu, dass das Kreuzbein abfiel und sich zwischen den Darmbeinen festsetzte, was sich tiefgreifend auf die Iliosakralbewegung auswirkte.“

Bei einer Verstauchung, die weniger als ein vollständiger Abriss ist, würde man erwarten, dass das Kreuzbein abfällt und sich in einem abweichenden Muster bewegt – eine gängige Funktionsstörung, die Physiotherapeuten als „Upslip“-Läsion bezeichnen. Da Kreuzbein und Darmbein so nahe beieinander liegen, würde man erwarten, dass sie in unregelmäßigen Winkeln wackeln und reiben. Die abweichende Bewegung würde eine abwechselnde Druck-, Scher- und Drehkraft auf die ISG-Flächen ausüben, die Oberflächen aufrauen und zu degenerativen Veränderungen führen, insbesondere an der Peripherie des Gelenks, wo die größten Beeinträchtigungen festgestellt wurden [5].

Außerdem ist bekannt, dass in Bereichen mit erhöhter Lastübertragung die Trabekulierung im Knochen dichter wird. Gracovetsky [6] stellte fest, dass eine dichte Trabekulierung nicht im Gelenkbereich, sondern im Bereich der Syndesmose auftritt, und vermutete, dass die Kraftübertragung an der Syndesmose stattfindet. Spätere Studien [7, 8] zeigten auf, dass eine dichte Trabekulierung durch das Ziehen der IS-Bänder entstehen kann. Die ligamentäre Aufhängung des Kreuzbeins wurde später mittels SPECT-CT bestätigt [9, 10].

Eine Frage der Interpretation

Für mich ist es schwer vorstellbar, wie ein mechanisches Gerät als Grundlage für das Verständnis der muskuloskelettalen und physiologischen Systeme des Körpers dienen kann. Leider wird dieser Irrtum von einigen als Wahrheit anerkannt. Das historisch verbreitete Wissen, dass das Kreuzbein durch Bänder am Darmbein aufgehängt ist, wird von den Anhängern des Schlusssteinmodells missachtet. Ihre „zahlreichen Beweise“ sind dabei eine Ansammlung von falschen Vorstellungen und Auslassungen, die zum Teil legitime Erkenntnisse durch Fehlinterpretation mit Unwahrheiten in Verbindung bringen.

Gute Forschungsergebnisse können bei falscher Interpretation irreführend sein. Vleeming et al. widersprachen beispielsweise etablierten Autoren [5, 11–13], die in umfassenden Studien zur Entwicklung des ISG von der Geburt bis ins hohe Alter degenerative Veränderungen feststellten, die in der Jugend begannen und sich im Laufe des Lebens weiterentwickelten, was zu Rissen, tiefen Erosionen, fibrotischen Veränderungen, lockeren Bindegewebssträngen, Kapselverdickungen und schuppigen, amorphen, gelben Ablagerungen führte, die den Gelenkspalt ausfüllten und schließlich Osteophyten und Ankylose bildeten. Im Gegensatz dazu vertraten die Schlusssteinbefürworter die Ansicht, dass dieselben Degenerationserscheinungen im frühen Erwachsenenalter normal seien. Sie ignorierten oder verharmlosten dabei die offensichtlich pathologischen Veränderungen, die sich im Laufe des Lebens entwickelten, außer bei „bestimmten älteren Männern“. Um dies zu beweisen, suchten sie nach Assoziationen, die auf eine Kompression an den ISGs schließen ließen, und nutzten diese zur Bestätigung ihres Konzepts.

Vleeming et al. [14, 15] führten ein In-vitro-Experiment durch, das aufzeigte, dass aufgeraute ISG-Flächen eine erhöhte Reibung aufwiesen. Sie behaupteten, dies beweise, dass aufgeraute Oberflächen eine normale Reaktion auf die Gewichtsbelastung seien. Außerdem behaupteten sie, dass die Kompression, die die aufgerauten Oberflächen verursachte, normal sei, was sie zu der Annahme veranlasste, dass die Gewichtsübertragung durch das ISG über die Gelenkflächen erfolgte, weil dort die Rauheit auftritt. In späteren Artikeln zitierten sie sich selbst, um ihre Hypothesen zu bekräftigen.

Stoßabsorbierung

Das gesamte muskuloskelettale System kann als ein zusammenhängendes Stoßabsorbierungssystem betrachtet werden. Wir können die Stoßabsorbierung und den Rückstoß vom Fuß über das ISG bis zur Wirbelsäule verfolgen. Kapandji [3] stellte fest, dass die Nutation (Stoßabsorbierung) durch die Spannung in den IS-Bändern begrenzt wird. Wilder [16] sagte, dass das Iliosakralgelenk aufgrund der von den IS-Bändern absorbierten Energie als stoßabsorbierende Struktur fungieren kann. In allen Gelenken dehnen sich die Bänder während der Stoßabsorbierung. Sie speichern die Energie und geben sie am untersten Punkt des Bewegungsbereichs in Form von Rückstoß ab.

Leider geht das Konzept von Form- und Kraftverschluss von der Einzigartigkeit des ISG aus, bei dem die Energie (Last) durch Kompression von Knochen zu Knochen im Gelenkbereich übertragen wird, was die Möglichkeit der Stoßabsorbierung in unserer Kernstruktur ausschließen würde.

Ligamentäre Aufhängung: Stoßabsorbierung im ISG

Während der Nutation wirkt die axiale Kraft durch die Wirbelsäule auf die Kreuzbeinbasis und zwingt das Kreuzbein, sich nach anterior und inferior zu bewegen, während sich das Darmbein nach posterior und inferior bewegt. Diese Gegenbewegung windet das interossäre Band und bringt die Darmbeine näher aneinander – ohne sie gänzlich zusammenzuführen. Am unteren Punkt der Nutation nehmen die IS-Bänder die gesamte Kraft auf, und das Gelenk federt in die Gegenbewegung zurück. Da die Bänder das Kreuzbein aufhängen und durch seinen Bewegungsbereich ziehen, ist die Bewegung sanft, effizient und reibungslos. Wenn die Kraft jedoch größer ist, als die Bänder aushalten können, kommt es zu einer Verstauchung, die, wie oben beschrieben, zu einer abweichenden Bewegung des Kreuzbeins führt.

Schlussfolgerung

Da das Schlusssteinkonzept viele grundlegende Prinzipien wie den ligamentär-muskulären Reflex, muskuläre Kompensationsmuster, Verletzungsmechanismen, die Auswirkungen der Traktion des Lendenbeckens auf einen Schlussstein, „Tensegrity“, Stoßabsorbierung, die Propellerform der sakralen Gelenkflächen, die Gelenkspannung, die Bewegung des ISG um eine schräge Achse und die Wechselbeziehung zwischen der Bewegung unseres Rumpfes und dem übrigen Bewegungsapparat nicht hinreichend berücksichtigt, kommt es zu Sackgassen und zu Fehlinterpretationen. ISG-Schmerzen bleiben in der Folge unverstanden.

Damit ein biomechanisches Modell als gültig anerkannt wird, müssen sich alle bekannten und überprüften biomechanischen Funktionen und Zusammenhänge so verhalten, wie es das Modell vorhersagt. Es gibt eindeutig zu viele Diskrepanzen im Schlusssteinkonzept auf Grundlage von Form- und Kraftverschluss, als dass es als gültig anerkannt werden könnte.

Ich halte es für wichtig, hinzuzufügen, dass Vleeming und seine Mitstreiter einen großen Beitrag zur Aufklärung und Förderung des Iliosakralgelenks als Schlüsselfaktor bei Fehlfunktionen des Bewegungsapparats geleistet haben. Obwohl ihre Prinzipien von Form- und Kraftverschluss ungenau sind, haben sie die Forschung im Bereich der Biomechanik angeregt, was weltweit zu einer verbesserten muskuloskelettalen Versorgung führen wird.

Referenzen:
1. Vleeming, A., et al., The role of the sacroiliac joints in coupling between spine, pelvis, legs and arms., in Movement, Stability, and Low Back Pain, A. Vleeming, et al., Editors. 1997, Churchill Livingstone. p. 53-71.
2. Vleeming, A., et al., The sacroiliac joint: an overview of its anatomy, function and potential clinical implications. J Anat, 2012. 221(6): p. 537-67.
3. Kapandji, I.A., The Physiology of the Joints. Vol. 3. 1977: Churchill Livingstone.
4. Vukicevic, S., et al., Holographic analysis of the human pelvis. Spine, 1991. 16(2): p. 209-14.
5. Bowen, V. and J.D. Cassidy, Macroscopic and microscopic anatomy of the sacroiliac joint from embryonic life until the eighth decade. Spine, 1981. 6(6): p. 620-8.
6. Gracovetsky, S., Stability or controlled instability?, in Movement, Stability & Lumbopelvic Pain, A. Vleeming, V. Mooney, and R. Stoeckart, Editors. 2007, Churchill Livingstone Elsevier: London. p. 279-294.
7. Cunningham, C.A. and S.M. Black, Anticipating bipedalism: trabecular organization in the newborn ilium. J Anat, 2009 a. 214(6): p. 817-29.
8. Cunningham, C.A. and S.M. Black, Development of the fetal ilium–challenging concepts of bipedality. J Anat, 2009 b. 214(1): p. 91-9.
9. Cusi, M. SPECT-CT on patients with a clinical diagnosis of failure of load transfer of the sacro-iliac joint. in 7th Interdisciplinary World Congress on Low Back & Pelvic Pain. 2010. Los Angeles: 7th Interdisciplinary World Congress on Low Back & Pelvic Pain.
10. Cusi, M.F., Paradigm for assessment and treatment of SIJ mechanical dysfunction. J Bodyw Mov Ther, 2010. 14(2): p. 152-61.
11. Sashin, D., A critical analysis of the anatomy and the pathologic changes of the sacro-iliac joints. The Journal of Bone and Joint Surgery, 1930. 12: p. 891.
12. Kampen, W.U. and B. Tillmann, Age-related changes in the articular cartilage of human sacroiliac joint. Anatatomy and Embryology (Berlin), 1998. 198(6): p. 505-13.
13. Walker, J.M., Age-related differences in the human sacroiliac joint: a histological study; – implications for therapy. J Orthop Sports Phys Ther, 1986. 7(6): p. 325-34.
14. Vleeming, A., et al., Relation between form and function in the sacroiliac joint. Part I: Clinical anatomical aspects. Spine, 1990. 15(2): p. 130-2.
15. Vleeming, A., et al., Relation between form and function in the sacroiliac joint. Part II: Biomechanical aspects. Spine, 1990. 15(2): p. 133-6.
16. Wilder, D.G., M.H. Pope, and J.W. Frymoyer, The functional topography of the sacroiliac joint. Spine, 1980. 5(6): p. 575-9.

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